03/03/2005 – Die Zeit / Sabine Rückert /
Frau Dr. Christiane Yüksel vertritt die Interessen ihrer Mandantin aufs entschiedenste.
Im vergangenen Sommer wird der junge Deutschtürke Ümüt auf offener Straße mit 33 Messerstichen getötet. Die Täter sind seine fünf besten Freunde. Sie sind zusammen zur Schule gegangen. Doch dann wird Ümüt psychisch krank und zur tödlichen Bedrohung für seine Freunde. Eine Reise in die entrückte Welt von Einwandererkinder.
Der Abend, an dem Ümüt sterben muss, ist ein Abend, an dem jeder gerne lebt. Das Wetter ist sommerlich und warm, und es ist lange hell. Im Hamburger Viertel Hasselbrook, da, wo die Conventstraße die Kiebitzstraße kreuzt, rücken die Menschen ihre Liegestühle auf die Balkons der Mietshäuser oder stehen am offenen Fenster. So kommt es, dass viele Anwohner beobachten, wie Ümüt gegen 22 Uhr unten auf der Kreuzung getötet wird.
Zu ihnen gehört der junge Vietnamese Ngoc Thach. Er vernimmt Lärm, Stimmen und Schreie von der Straße und schaut aus seinem Fenster ganz oben unter dem Dach eines Mehrfamilienhauses hinaus, von hier kann er die Kreuzung gut überblicken. Ngoc Thach ist kurzsichtig, aber er trägt eine Brille. Er sieht „ein Rudel Männer“, das hinter einem Einzelnen her ist. Der Flüchtende weicht rückwärts in die Kiebitzstraße zurück, die fünf Verfolger rücken im Halbkreis nach. Dann greifen sie an, zerren an seiner Kleidung, stoßen ihn. Der Mann taumelt auf die Motorhaube eines stehenden Fahrzeugs, jetzt fallen die anderen über ihn her, sie schlagen, sie treten, auch Stichbewegungen kann Ngoc im Menschenknäuel erkennen. Der Angegriffene geht zu Boden und verschwindet zwischen den parkenden Autos.
Ngoc Tach rennt zum Telefon: Polizei! Polizei! Dann hastet er die Treppen hinab. Da liegt der Mann sterbend in seinem Blut, blutbesudelt auch die Motorhaube. Die Angreifer sind verschwunden. Der Verletzte röchelt und schnappt nach Luft. Wenig später stirbt Ümüt, getroffen von 33 Messerstichen, am schönen Sommerabend des 11. Juni 2004. Gerade 26 Jahre ist er alt.
Wer welchen Stich geführt hat, wird später niemand mehr feststellen können. Doch die Messer sind mit solcher Wucht in Ümüts Körper gestoßen worden, dass Rippen und Knochen zerstört sind. Die linke Schulter wurde durchstochen, die Arme, die Beine. Ein Stich drang durch die Lendenregion bis zur Wirbelsäule, drei Stiche gingen durch das Zwerchfell in die Milz und den Magen. Drei weitere Messerstiche trafen auf die linke Lunge, die daraufhin in sich zusammenfiel, ein Stich verletzte die rechte Lunge, die gleichfalls ausfiel. Wohl erst ganz zum Schluss rammte einer sein Messer in die linke Schläfe, da muss Ümüt schon am Boden gelegen haben. Die Klinge fuhr durch den linken Schläfenlappen und bohrte sich in die Hirnbrücke. Eine absolut tödliche Verletzung.
Die Täter sind Mitte 20, sehen aber aus wie unglückliche Kinder
33 Messerstiche – und Ümüt war doch ihr bester Freund. Ihr Anführer, ihr „Bruder“. Vorbild, Beschützer, Respektsperson. Was Ümüt wollte, geschah auch. Er war eine „Führungspersönlichkeit„, sagen die Täter, die sich nun vor der Großen Strafkammer 22 des Hamburger Landgerichts wegen gemeinschaftlichen Totschlags verantworten müssen, immer noch reden sie voll Liebe und Bewunderung von dem Toten: Hoch gewachsen, willensstark, gut aussehend und wortgewandt sei er gewesen, ein cooler Typ mit immer ordentlich Geld in der Tasche. Trotzdem haben sie sich am 11. Juni zusammengetan und ihm ein Ende gemacht. Haben allem ein Ende gemacht. Auf der Anklagebank sitzen die Angreifer von der Kreuzung: die Gebrüder Bora und Baha, Söhne türkischer Gastarbeiter. Da sitzt Fahmy, der Sohn tunesischer Einwanderer. Da sitzt Philipp, ein Halbitaliener. Und Butto, dessen Eltern einst aus dem anatolischen Diyarbakır kamen, um in Deutschland etwas zu werden. Die Angeklagten sind schon Mitte 20, sehen aber aus wie unglückliche Kinder. Einige sind vorbestraft, wegen Eigentums- oder Rauschgiftdelikten, keiner geht einer geregelten Arbeit nach, keiner ist verheiratet. Alle fünf sind Staatsbürger der Bundesrepublik Deutschland, ihr Deutsch ist tadellos.
Ümüt, der Tote, war ebenfalls Deutscher, wenn er auch wie ein Morgenländer aussah. Seine Eltern sprechen die Sprache ihres Gastlandes bis heute nur gebrochen. Aber Ümüt, in der Hansestadt geboren, intonierte ein so unverfälschtes Hamburgisch, dass ihn für einen Jung von der Waterkant hätte halten können, wer die Augen schloss. Ümüt und seine fünf Freunde Bora, Baha, Fahmy, Philipp und Butto wuchsen auf den Straßen von Hamburg-Hasselbrook auf, ihre Welt beschränkte sich auf ein paar Häuserblocks. Als Kinder gingen sie zusammen zur Schule und spielten im Jakobipark Fußball. Später hingen sie zusammen herum, rauchten Marihuana und schlugen die Zeit tot. Hasselbrook ist keine schlechte Gegend, die Häuser sind gut in Schuss und die Gehwege mit Bäumen begrünt. Die Familien der Freunde lebten in den hier üblichen drei- und viergeschossigen Mietshäusern aus rotem und gelbem Backstein. Vielleicht ein Drittel der Hasselbrooker Familien trägt fremd klingende Namen, die Eltern stammen aus dem Ausland, ihre Kinder sind deutsch.
„Liebe Mama! Mach die Tür nicht auf! Ümüt ist verrückt geworden“
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